Im aktuellen Diskurs zur digitalen Transformation in und von Schulen begegnet man häufig der Formulierung „Bildung unter den Bedingungen von Digitalität“. Der Begriff „Digitalität“ wird hierbei vielfach mit Bezug auf Felix Stalder verwendet. Dieser zeichnet in seinem gleichnamigen Buch die Entwicklung einer „Kultur der Digitalität“1 nach, die sich in Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Technologien formiert.
Ausgangspunkt der Analyse von Felix Stalder ist dabei ein historischer Blick auf die Wechselwirkung gesellschaftlicher und technologischer Veränderungen in einer kulturellen Epoche, in der das Buch als Leitmedium langsam abgelöst wird von einer neuen digital-vernetzten Infrastruktur. Er bezieht sich hierbei u.a. auf McLuhan, der bereits vor 50 Jahren das Ende der Gutenberg-Galaxis ausgerufen hat. Stalder knüpft hieran an und arbeitet drei charakteristische Grundformen einer Kultur der Digitalität in der sich aktuell entwickelnden Epoche heraus: (1) Referentialität – verweist auf die Produktion neuer kultureller Artefakte durch das Auswählen, Zusammenführen und Verändern bestehenden Materials; (2) Gemeinschaftlichkeit – Orientierung und Bedeutung entstehen in einem kollektiv getragenen Referenzrahmen, wobei sich die persönliche Identität zunehmend über die Positionierung in sozialen Netzwerken und weniger im Rahmen von stabilen Formationen wie z.B. Familie oder Arbeitsplatz definiert; (3) Algorithmizität – bezeichnet die Aspekte kultureller Prozesse, die durch Daten und Algorithmen geordnet und beeinflusst werden.
Was das Buch insbesondere aus der Perspektive der digitalen Transformation von schulischen Bildungsprozessen relevant macht, ist zum einen das umfassende Verständnis von Kultur, das Stalders Gesellschaftsanalyse zugrunde liegt und auf einer poststrukturalistischen Denkweise 2 basiert. Zum anderen betont er die Wechselwirkung von technologischer und kultureller Entwicklung und verbleibt nicht auf einer rein technikzentrierten Sichtweise auf Aspekte der Digitalisierung.
Als Kultur bezeichnet Stalder alle Prozesse, in denen soziale – also von mehreren Personen geteilte – Bedeutung ausgehandelt und realisiert wird. In diesem Verständnis ist “Kultur […] nicht symbolisches Beiwerk, kein einfacher Überbau, sondern sie ist handlungsleitend und gesellschaftsformend.“ (S.16)
Kulturelle Veränderungsprozesse bringen immer auch veränderte Strukturbedingungen des Handelns mit sich. Stalder zeigt auf, dass Medien hinsichtlich kultureller Entwicklungen eine zentrale Rolle spielen, denn sie prägen die Art und Weise, wie wir miteinander in Verbindung treten: wie wir wahrnehmen, wie wir kommunizieren, wie wir uns koordinieren. Medien prägen also den Möglichkeitsraum unseres Handelns – und gleichzeitig verändern sich mit neuen Medien auch die kulturellen Formen, Diskurse und Aushandlungsprozesse. Kultur verändert sich in Wechselwirkung mit dem medialen Wandel permanent. Aktuell befinden wir uns in einem Stadium gesellschaftlicher Entwicklung, in dem digitale Medien nahezu alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen haben. Digitalisierung ist allgegenwärtig, digitale Tools sind normaler Bestandteil unserer Kommunikation – eine Veränderung unserer kulturellen Rahmenbedingungen wird wahrnehmbar. Wir kommunizieren und handeln unter den Bedingungen von Digitalität – und “erst heute, wo die Faszination für die Technologie abgeflaut ist und ihre Versprechungen hohl klingen, wird die Kultur und Gesellschaft in einem umfassenden Sinne durch Digitalität geprägt.” (S. 20)
Für die digitale Transformation schulischer Bildung bedeutet dies eine Fokusverschiebung bzw. -ergänzung: Neben den technologischen und infrastrukturellen Herausforderungen, die lange Zeit im Zentrum von Schulentwicklungsprozessen standen, rückt die kulturelle Perspektive zunehmend in den Mittelpunkt. Es geht nicht um Technik, sondern um neue Formen der Wahrnehmung, der Kommunikation, der Kooperation. Das Analoge verschwindet nicht unter den Bedingungen von Digitalität, sondern wird neu bewertet. Vor diesem Hintergrund bringen uns weder Positionen weiter, die von einer ausgeprägten Technikbegeisterung geprägt sind, noch ist eine bewahrende Haltung und die Abwehr aktueller Technologien zielführend. Akteur:innen in Schulen, deren Aufgabe es ist, zeitgemäße und zukunftsorientierte Bildungsangebote zu entwickeln, müssen die veränderten Strukturbedingungen des Handelns mit Blick auf die Entwicklung eines zeitgemäßen Verständnisses von Lernen und Bildung analysieren, verstehen, reflektieren und darauf aufbauend die Ziele und Formen schulischen Lehrens und Lernens entsprechend anpassen. Die von Stalder herausgearbeiteten Formen einer Kultur der Digitalität (Referentialität, Gemeinschaftlichkeit, Algorithmizität) können als Ausgangspunkt für ein Verständnis aktueller Herausforderungen an die Gestaltung von Lehr- und Bildungsprozessen hilfreich sein.
Wohin sich eine Kultur der Digitalität entwickelt, ist nach Stalder noch offen. Er skizziert zwei mögliche Entwicklungslinien: die Post-Demokratie als eine Gesellschaft, in der Infrastrukturen und Daten eine große Macht besitzen, aber nur wenige Organisationen (wie z.B. große Tech-Giganten wie Google oder Amazon) Einfluss auf die Ausgestaltung der Infrastrukturen haben. In der Konsequenz haben Benutzer:innen wenig Kontrolle über die Bedingungen ihres Handelns. Oder, als Gegenpol hierzu, unter dem Stichwort “Commons”, der Aufbau neuer Institutionen und Strukturen, die mittels eines partizipativen Ansatzes gemeinschaftliche Infrastrukturen gestalten, wie es z.B. die Open Data-Bewegung oder Wikimedia tun.
Digitale Transformation von Schule bedeutet also auch, den Gestaltungsanspruch und die Gestaltungsverantwortung für eine Kultur der Digitalität anzunehmen und Schüler:innen dazu zu befähigen, kompetent und kritisch die Bedingungen der Digitalität mitgestalten zu können.
Die Lektüre des Buches empfiehlt sich auf jeden Fall, um die hier dargelegte kulturorientierte Perspektive auf Aspekte der Digitalisierung in Schulen nachvollziehen zu können. Einen ersten Überblick über die charakteristischen Grundformen einer Kultur der Digitalität und die Herausforderungen, die sich daraus für die Transformation von Bildungsinstitutionen ergeben, liefert auch ein frei zugänglicher Beitrag von Felix Stalder, der im Open Access-Online Journal „Synergie. Fachmagazin für Digitalisierung in der Lehre“ der Universität Hamburg veröffentlicht wurde.
- Stalder, Felix (2016). Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp, S.20.
- Der Poststrukturalismus ist eine theoretische Strömung, die in den 1960er Jahren zunächst in Frankreich aufkam. Es ist explizit keine eindeutige Theorie, sondern eher eine Sammlung verschiedener Methoden und Theorien, die im Kern darauf basieren, dass sie Strukturen und Diskurse als dynamische Veränderungsprozesse und nicht als stabile Gebilde betrachten.